Reinhardt Graetz

Inhalt

Fortschritt, allgemein

"Pantha rhei" -alles fließt

Binsenweisheit: alles bewegt sich und erzeugt dadurch ständig Veränderungen. Nichts bleibt so, wie es ist.

Veränderungen
sind in der biologischen Evolution immer auch Herausforderungen an alle Lebewesen, sich ihnen anzupassen. Dafür gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten:
Sie können Veränderungen einfach passiv so hinnehmen. Sie können sich aber darauf einstellen und so für sich nutzen - das wäre die Basis für ihr Überleben. Noch besser: Veränderungen aktiv nach ihren Vorstellungen selbst herbeizuführen.
Bei der biologischen Evolution überwogen die Reaktionen auf Herausforderungen als eine allmähliche Anpassung an Veränderungen. Wenn eine Spezies gar nicht oder unzureichend reagierte, war das der Anfang vom Ende ihrer Existenz. Zum Schluss starb sie einfach aus.

Sozial-kulturelle Evolution
Bei den frühen Menschen entwickelte sich allmählich ein Moralbewusstsein - als Bewertungsgrundlage für ihre Entscheidungen:
für oder gegen (Re-)aktionen auf Herausforderungen. 
Voraus geht allen Aktionen eine Einschätzung: Werden deren Ergebnisse nützlich oder schädlich sein? Gut oder schlecht? Gut oder böse?

Die Moral als Grundlage zweierlei Fortschritts
Das Moralbewusstsein liefert uns eine Bewertungsgrundlage für alles Bestehende.
Fortschritt entsteht, wenn Menschen Veränderungen nach ihren Vorstellungen aktiv herbeiführen wollen mit dem Ziel, Bestehendes zu verbessern - oder gleichermaßen Unzulänglichkeiten zu vermindern oder ganz zu beseitigen. Voraus geht immer eine Situationsanalyse, der eine Bewertung folgt - ein "Gutbefund". Seit die Menschen die Moral "entdeckt" haben, haben sie zweierlei Arten von Unzulänglichkeiten des Istzustandes/der Gegenwart ausgemacht:

- in ihrem eigenen Verhalten
- in ihren Lebensbedingungen

Wissenschaftlich-technischer und sozial-kultureller Fortschritt
So kann man zweierlei Arten des menschlichen Fortschritts ausmachen: einen sozial-kulturellen und, seit ca. 200 Jahren, auch einen wissenschaftlich-technischen. Während der wissenschaftlich-technische generell auf zuverlässigen naturwissenschaftlichen Grundlagen beruht, geht der anvisierte sozial-kulturelle bisher auf willkürliche Annahmen und subjektive Einschätzungen zurück. Das sind bestimmte Rahmenbedingungen für Verhaltensmuster, auf neudeutsch "Narrative", die von der Herrschaftskaste im Eigeninteresse gesetzt wurden. Erst in unseren Tagen bemächtigt sich die naturwissenschaftliche Denkweise auch sozialer Disziplinen. Deswegen ist es inzwischen zu deutlich unterschiedlichen Geschwindigkeiten zwischen beiden gekommen.
Während der wissenschaftlich-technische Fortschritt bisher eine deutliche Verbesserung der menschlichen Lebensumstände bewirkt hat, zielt der sozial-kulturelle Fortschritt auf eine Verbesserung menschlicher Verhaltensweisen.
Beides hat etwas mit der biologischen Evolution zu tun. Bis zur Aneignung des Moralbewusstseins verlief die biologische Evolution nach dem Prinzip der passiven Auslese. Seit der Entdeckung und Aneignung des Moralbewusstseins ist der Mensch in der Lage, Veränderungen nach seinen Vorstellungen aktiv herbeizuführen. Insofern war die Aneignung des Moralbewusstseins eine höchst wichtige Wegmarke in der menschlichen Evolutionsgeschichte. 

Ist und Soll
Allgemeiner formuliert, gibt es seither ein Bewusstsein über eine Differenz zwischen Ist- und Sollzustand. Häufig kommt der Istzustand bei einer Analyse schlecht weg, und soll deshalb durch einen als "besser" formulierten Sollzustand als Zielvorstellung ersetzt werden. "Fortschritt" umschreibt dann den Weg, auf den wir "fortschreiten", um unsere Zielvorstellungen zu erreichen.

Als sozial-kultureller Fortschritt wird dabei eine Veränderung menschlicher Verhaltensweisen in Richtung Miteinander vom bisherigen Gegeneinander menschlicher Gruppen beschrieben. Deren Zielvorgaben, bisher von verschiedenen religiösen Moralinstanzen verfasst, beruhten dabei auf unterschiedlich subjektiv begründeten Meinungen und Glaubensdogmen. Sie dienten als Verhaltensmuster für die Zielgruppen - meist analphabetische Sklaven - und damit zugleich auch den Herrschaftsinteressen. Zu dieser Zielsetzung sind bisher nur geringe Fortschritte erkennbar, weil die Herrschaftskasten immer zuerst daran interessiert waren, ihr Herrschaftssystem - die Sklavenhaltergesellschaft - zu stabilisieren und über die nächsten Generationen fortzuschreiben. So hat sie über die Jahrtausende überlebt, und fängt erst in unserem Zeitalter an zu bröckeln.

Fortschreibung von Kriegen und Gruppenkämpfen
Seit altersher agieren daher unverändert menschliche Gruppen gegeneinander und kämpfen um die Macht über andere Gruppen. Die Religionen haben sich mit ihren Zielvorgaben in Form von Glaubenssätzen als subjektiv, einseitig interessenorientiert und damit als wenig hilfreich im Sinne der sozialen Zielsetzungen erwiesen. Oft haben sie sich als Organisation selbst nicht an ihre eigenen Vorgaben gehalten und damit als selbsternannte Moralinstanzen selbst blockiert. Man kann nicht den Menschen predigen: "Du sollst nicht töten" und sie zugleich über Jahrhunderte zu heiligen Kriegen und Kreuzzügen aufrufen, bei denen konkret Menschen umgebracht werden sollen. Zudem dienten die Religionen in erster Linie dem Machterhalt der weltlichen Herrschaftskaste. Die wiederum sah sich von Anfang an als hoffnungslos kleine Minderheit einer übergroßen Mehrheit gegenüber, die es zu beherrschen galt. So war eine Fortschreibung des Gegeneinanders verschiedener Gruppen unvermeidlich.  

Im Gegensatz dazu ist seit ca. 200 Jahren eine stetige Beschleunigung des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts zu beobachten. Er beruht auf der Erkenntnis von  Naturgesetzen und deren Anwendung. Sie sind im Gegensatz zu subjektiv verfassten Glaubensdogmen eine zuverlässige Grundlage für weitere Erkenntnisse und deren Folgeanwendungen, neuerdings auch in den Bereichen von Medizin und Soziologie. 

Vier Verhaltensmuster
Die Menschen zeigen hauptsächlich vier Verhaltensmuster, mit Veränderungen umzugehen:

1. Optimisten begreifen Veränderungen immer
    als Chance für Verbesserungen. Sie übersehen
    dabei häufig die Gefahren.

2. Pessimisten fürchten sich: sie fühlen sich
    durch Veränderungen bedroht. Dabei
    übersehen sie häufig ihre Chancen.

3. Realisten analysieren Chancen und Risiken,
    ehe sie sich zu Aktionen entscheiden. Dabei
    fallen ihnen häufig Entscheidungen schwer,
    und sie fangen erst mal mit der nächsten
    Analyse an.

4. Fatalisten nehmen alles so hin, wie es kommt.


Der Fortschritt ist eine Schnecke - aber langfristig nicht aufzuhalten!
Wenn der Mensch imstande ist, Veränderungen für sich zu nutzen, oder sie möglicherweise extra deswegen herbeiführt, damit er sie nutzen kann, spricht man von "Fortschritt". Man kann ihn umschreiben mit einem Zugewinn an Freiheitsgraden, die vorher so nicht bestanden - er bedeutet somit die Ausweitung biologisch vorgegebener menschlicher Fähigkeiten und Möglichkeiten, Zeitgewinn eingeschlossen. Jedweder Fortschritt ist immer moralisch begründet: Unzulänglichkeiten werden dadurch verringert oder ganz beseitigt, Bestehendes wird verbessert - "das Bessere ist des Guten Feind". Ob die erzielten Veränderungen "gut" oder "böse" sind, wird subjektiv immer unterschiedlich beurteilt werden. Das durch den Fortschritt erreichte neue Potential sollte daher immer begleitet sein durch ein Verantwortungsbewusstsein, das vorweg eine routinemäßige Abschätzung des Veränderungs- und damit auch Verfügungspotentials einschließt: Wie weit könnte im Extremfall der Nutzen oder Schaden des nunmehr erreichten Fortschritts gehen? 

Je mehr Freiheitsgrade durch irgendeinen Fortschritt erreicht werden, umso größer wird die Reichweite menschlicher Entscheidungen. Und die können immer zum Guten wie zum Bösen genutzt werden. Daher erwächst den Menschen aus jedem Fortschritt auch eine größere Verantwortung.

Zeitgewinn: alles, was hilft, dir Zeit einzusparen, eröffnet dir mehr Spielraum, die Dinge nach deinen Vorstellungen zu gestalten. Die Frage, "was brauche ich wirklich und was nicht?" ist vor diesem Hintergrund leicht zu beantworten.
Das 20. Jahrhundert brachte da enormen Fortschritt - den Frauen beispielsweise durch die Waschmaschine, allen durch die Zentralheizung. Zeitgewinn: mehrere Stunden pro Tag. Und, was macht der Mensch mit der gewonnenen Zeit? Er pflegt sie gnadenlos zu verplanen. Im Zeitplan stehen vermutlich heutzutage doppelt so viel Termine wie vordem. Laut Herrn Darwin überleben nur die Cleversten...

Erkenntnisgewinn
Fortschritt nach Georg Christoph Lichtenberg: "Lesen heißt borgen, daraus erfinden abtragen". Wenn du immer mit allem zufrieden wärst, würde es nie einen Fortschritt geben. Wärst du mit gar nichts zufrieden, würde es ständig nur Unruhe, Revolutionen und Kriege geben, und du wärest dein Leben lang unglücklich.

Was ist wichtig? Was ist gut? Alles, was dem Leben nützt, was es schützt, bereichert, wertvoller macht – was die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt; jeder Erkenntniszuwachs, der an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird. Zu Goethes Zeiten konnten die Menschen noch nicht fliegen, und er hielt die Menschheit daher für "noch nicht alt". Inzwischen haben die Menschen fliegen gelernt und sind damit ein Stück älter geworden. Nun müssen sie noch Kriege und die Sklaverei abschaffen.

"Wachset und mehret euch" - wäre das Fortschritt? Es war eher ein fataler Irrtum der antiken Bibelautoren. Stetiges Wachstum bei endlichen Ressourcen ist widersinnig. Bei Körpergewicht, Krebszellen und Fußnägeln ist dies unmittelbar einsichtig. In der Wirtschaft wird man wohl oder übel zu der gleichen Ansicht kommen müssen - auch deren Bäume wachsen nicht ungebremst in den Himmel. Ebenso kann die Weltbevölkerung nicht unaufhaltsam weiterwachsen. Die Ressourcen wachsen nicht mit! Wenn es immer mehr Menschen auf der Welt gibt, aber die Güter der Erde zwangsläufig nicht mitwachsen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis alles knapper und knapper wird. Entweder regulieren die Menschen das intelligent aus, oder die Dinge nehmen ihren - dann umso brutaleren - Lauf.

Plädoyer für eine heile Welt
In einer unheilen Welt könnten wir auf die Dauer nicht leben. Eine heile Welt hat freilich nichts mit ihrer verschnulzten Karikatur zu tun. Das verlorene oder zu gewinnende Paradies ist nirgends als in dir selbst - als ein Teil deiner Vorstellungswelt. Es hat real nie existiert, aber wir könnten es uns schaffen – durch Einsicht, Erkenntnis und Augenmaß, durch ständige Arbeit daran – in dieser unserer Welt, nirgends woanders.

Evolution und Fortschritt
Die Aneignung des Moralbewusstseins war ein wichtiger evolutionärer Meilenstein: hierdurch wurde es den Menschen möglich, ihre Umgebung wie auch ihr Verhalten aktiv nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Sie begriffen Unzulänglichkeiten als Herausforderungen für mögliche Problemlösungen, die sie dann aktiv angehen. So schafften sie es beispielsweise, eines Tages selbst zu fliegen, was bisher nur Vögeln oder Insekten vorbehalten schien. Bis dahin gab es nur die biologische Evolution, bei der Veränderungen nur durch passive Anpassung an natürliche Vorgaben/Veränderungen möglich waren.
Obwohl es die technisch-wissenschaftliche Entwicklung - und im Gefolge die Industrialisierung - erst seit ca. 200 Jahren gibt, hat inzwischen der Mensch mit deren Hilfe so nachhaltig in das Naturgeschehen eingegriffen, dass dadurch irreversible Änderungen bewirkt wurden. Die haben nun auch einen Namen: Anthropozän - das menschengeprägte Erdzeitalter.