Reinhardt Graetz

Inhalt

Freiheit


Freiheit, Zufall, Gesetz

Gäbe es keinen Zufall, dann gäbe es auch keine Freiheit - alles Geschehen wäre dann streng vorherbestimmt und -geplant, wir wären wie zwangsweise angetriebene Zahnräder, ohne Entscheidungsmöglichkeiten.
Weil nun aber der Zufall existiert - genauso, wie es Gesetzmäßigkeiten gibt - kann es überhaupt erst Freiheit geben. Die Existenz des Zufalls befreit alle Vorgänge von den Zwangsläufigkeiten einer sonst hundertprozentig wirksamen Gesetzmäßigkeit. Dadurch ergibt sich, dass die Zukunft generell offen ist; für das, was geschehen wird, gibt es daher immer mehrere Möglichkeiten. Welche davon zuletzt eintrifft, ist weder vorhersagbar noch planbar: Unsere Welt ist offen.

Ohne das Phänomen Zufall gäbe es keine Freiheit.

Selbst ein bisschen Freiheit ist mehr wert als ein komfortables Gefängnis.

Freiheit bedeutet Abwesenheit von Bindungen.
Für viele Dinge, die nicht streng gebunden sind, existieren für den Menschen Eingriffs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Es gilt, sie zu erkennen und zu nutzen. Kluge Köpfe erkennen dazu auch verborgene Möglichkeiten. Kreative Köpfe sind da noch besser: sie erzeugen sich ihre Entscheidungsmöglichkeiten selbst.
Voraussetzung dafür ist die Verschiedenartigkeit von Dingen oder Vorgängen; unter gleichartigen gäbe es keine Wahlmöglichkeiten. Über die Methode der Polarisierung ist es jedoch möglich, selbst von ein- und demselben Ding extrem gegensätzliche Aspekte mit entsprechend kontrastierenden Bewertungen auszumachen und damit Entscheidungsmöglichkeiten für oder gegen den einen oder anderen Aspekt zu eröffnen. Die Entdeckung der Moral ist ein spektakuläres Beispiel dafür.

Durch Erkenntnis und Nutzen von Möglichkeiten wird Freiheit realisierbar.

Freiheit sei die "Einsicht in die Notwendigkeit" - wer diesen Unsinn erfunden hat, muss wohl seine Mitmenschen als ziemlich tumbe Toren eingeschätzt haben. (Waren Sie das tatsächlich, Herr Hegel...!?) Als Definition für den Begriff "Freiheit" ist dieser Satz völlig abwegig. Er beschreibt zwar eine bestimmte, durchaus nützliche Verhaltensweise, wenn es beispielsweise um Überleben geht. Das ist aber ganz etwas anderes als Freiheit.
Die "Notwendigkeiten" wollen da natürlich immer andere für mich bestimmen - bei den inzwischen abgetretenen Sozialisten die Partei, genauer: deren Chefideologen; bei der Inquisition, die jetzt "Glaubenskongregation" heißt, die selbsternannten "Stellvertreter Gottes auf Erden"; bei bestimmten Muslimen der Glaubens-Wächterrat - und, und, und...
Der Begriff "Notwendigkeit" ist eine verharmlosende Umschreibung von Zwang. Der existiert aber meist gar nicht so, wie er angenommen oder in speziellen Geschichten suggeriert wird.

Freiheit wird so zur Akzeptanz von Zwang umdefiniert.
Freiheit = Zwang? George Orwell mit seinem "Neusprech" lässt grüßen...

Bei den Religionen geht das immer nach dem Motto:
"...Dein Wille geschehe..." - nein, nicht etwa meiner! Gemeint ist hier zunächst der Wille "Gottes" - da ihn aber niemand kennt und ihn niemand je gesehen hat, soll dann ersatzweise der Wille seiner selbsternannten Stellvertreter und Interpreten gelten - so einfach ist das. Dieser Satz aus dem "Vaterunser" diente also schon seit altersher zu nichts anderem, als die Sklaven für ihre Unfreiheit zu konditionieren. Und: er wurde von Herrn Gerhard L. Müller, früherer Chef der vatikanischen Glaubenskongregation - früher: Inquisition - soeben noch einmal sinngemäß bekräftigt: Freiheit sei die "Vollendung des Glaubensgehorsams", ließ er sich unlängst vernehmen.

So wird der Begriff Freiheit verbogen bis zur Unkenntlichkeit - zuletzt soll ich glauben, Freiheit sei identisch mit Fügsamkeit in die Notwendigkeiten, gleichbedeutend mit Gehorsam. Ist genau das nicht anderswo als "Neusprech" bezeichnet worden, begleitet von der "Umwertung aller Werte"...!? (Liebe = Hass, Freundschaft = Feindschaft etc.) Ja, da sind wir tatsächlich bei George Orwells "großem Bruder" und seiner Gedankenpolizei gelandet.

Kurz gesagt wird damit suggeriert, dass es eigentlich gar keine Freiheit gäbe. Aber:

Freie Menschen brauchen weder Herren noch Knechte.

Sie benötigen keine Vorgaben von anderen, noch wollen sie anderen Vorgaben machen. Die menschliche Freiheit besteht darin, die Ziele des Lebens und damit dessen Sinn selbst zu bestimmen.

Absolute Freiheit ist der Tod! Keine Bindungen, keine Kommunikation. Das Leben hingegen hat durchaus seine naturgegebenen Gesetze und Zwangsläufigkeiten und schränkt die Freiheit ein. Auch hier gibt es nichts sinnvoll Absolutes.

Bestimmen nun Zufall oder Gesetz die Welt?
Gäbe es nur den Zufall, hätten wir nichts als das uneingeschränkte Chaos. Gäbe es nur Gesetzmäßigkeiten, befänden wir uns alle in einer Art Zahnradgetriebe, alles bestünde nur aus Zwangsläufigkeiten und es gäbe keine Freiheit. Beide Prinzipien wirken aber in unserer Welt gleichzeitig. So sind Gesetz und Zufall miteinander verwoben: sie durchdringen sich gegenseitig. Wie beides zusammenwirkt, kann man beispielhaft am Wettergeschehen studieren. Das Symbol von Yin & Yang passt hierzu besonders gut.

Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn,
auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!

Johann Wolfgang v. Goethe (Faust II)

Wenn die Menschen mehr Freiheit für sich beanspruchen, ist es logisch, dass sie immer mehr langfristige Bindungen zugunsten von kürzerfristigen aufgeben. Das gilt für Bindungen an Religionen, Überzeugungen, Partner und Arbeitsverhältnisse; deren Nutzen soll sich bereits in diesem Leben zeigen, nicht erst nach Generationen. So werden auch immer mehr Selbstorganisation und Eigenverantwortung gefordert.

Dem Zeitgeist entsprechend erwarten immer mehr Menschen, dass sich ihre Zielsetzungen in diesem Leben erfüllen sollen, und nicht erst in fernen Zeiten, wenn sie längst gestorben sind. Dadurch wird eine gigantische Beschleunigung aller Lebensvorgänge hervorgerufen - mit allen fatalen Folgen für die Umwelt und die Natur.

Wenn man das Gefühl hat, dass jetzt Erntezeit sei, kann der Winter nicht mehr weit sein. Bei ~8 Mrd. Menschen wird es allmählich eng auf diesem Planeten...