Reinhardt Graetz

Inhalt

Die Moral

>gut & böse<

Bei der Moral - und damit auch bei allen Religionen - geht es um gut und böse.

Nach Shakespeare ist kein Ding an sich gut oder böse; 
erst die menschlichen Gedanken machen es dazu.

Welche Gedanken-?

Die menschliche Moralbrille
ist so ein menschliches Gedankenkonstrukt; von einem Ding oder Vorgang werden extrem gegensätzliche Aspekte betrachtet. Was wir daraufhin als gut oder böse bewerten, ist dann immer von der Erwartungshaltung und der menschlichen Interessenlage, mithin von menschlicher Willkür abhängig.
Im Technikbereich kennen wir die Polarisationsfilter: mit ihrer Hilfe kann man bestimmte Schwingungsrichtungen des Lichts wegfiltern und dadurch die subjektive Wahrnehmung eines Foto-Objekts verändern. Das Objekt hingegen bleibt, wie es ist.

Ganz ähnlich funktioniert die menschliche Moralbrille.

Seit die Menschen die Moral "erfunden" haben, verfügen sie über eine solide und weitreichende Bewertungsgrundlage. Und erst auf dieser Grundlage können sie Unzulänglichkeiten wahrnehmen, und hieraus den Wunsch entwickeln, sie zu eliminieren und die Welt zu verbessern. Dieser Prozess wird nie an sein Ende kommen können; zu jedem Zustand ist ja immer auch ein besserer vorstellbar, nach dem Motto: das Bessere ist des Guten Feind. Es ist ähnlich wie bei der größten Zahl, die man ermitteln soll. Ein statischer Endzustand - die "ewige Seligkeit" - wird daher nie erreichbar sein.

Die Moral ist ambivalent
Diese Ambivalenz ist ihr Wesenskern. Die Dinge sind so, wie sie sind - ebenso, wie die Moralbrille der Menschen. Daher wäre es illusorisch zu versuchen, eine Hälfte von der Moral - das Böse - dauerhaft eliminieren zu wollen. Genau das, was uns alle Religionserzählungen weismachen wollen, mit ihren Erzählungen über eine dauerhafte "Erlösung vom Bösen". Das ginge nur, wenn die Menschen bei ihrem Denken und Tun alle moralischen Aspekte völlig außer acht ließen, also mit purem Fatalismus. Dann aber würden sich die Menschen weder für gut noch böse interessieren. Das wiederum wäre ein genereller gesellschaftlicher Rückschritt.

Der Dalai Lama bemerkte einmal dazu: "Die Erlösung vom Bösen ist nichts anderes als die Befreiung von falschen Vorstellungen".

Woher wissen wir, was gut oder böse ist?

Die Wurzeln der Moral
können wir in den tieferen Ebenen der Evolution vermuten - in dem, was uns die Psychologen als "Gesetz von Lust und Unlust" umschreiben: Wir streben immer nach Lusterlebnissen, und versuchen Unlusterlebnisse zu vermeiden. Dieses Verhalten können wir bereits bei vielen höheren Tierarten beobachten. Offenkundig hat sich auf dieser Grundlage nach und nach in grauen Vorzeiten unser Moralbewusstsein entwickelt.
In der blumigen Symbolsprache der Bibel haben sich da die Urmenschen Adam und Eva die "Früchte" des "Baumes der Erkenntnis von gut und böse" einverleibt - genauer: die symbolischen "Früchte" als Ergebnisse eines längeren Reifeprozesses. 

Dass das den damaligen Herrschaften durchaus nicht gefallen hat, ist wieder eine andere Geschichte. Sie strebten wohl schon damals nach der alleinigen Deutungshoheit, was die Moral betrifft. Es ging ihnen da um nichts weniger als um die Machtsicherung in einer patriarchalisch geprägten Sklavenhaltergesellschaft..

Inzwischen gilt: was uns nützt, betrachten wir als "gut" - was uns schadet, als "böse".
Allgemeiner: alles, was aufbaut, erscheint uns nützlich; was zerstört, schädlich.
Aber so einfach ist es nicht: unsere Zellen beispielsweise sterben nach einiger Zeit ab, um neuen Platz zu machen. Sie dienen so der größeren Einheit, dem Gesamtorganismus; würden sie dagegen ungehemmt wachsen, würde das dem Organismus früher oder später schaden und ihn am Ende vorzeitig zerstören. Nicht in jedem Fall also ist Aufbau/Wachstum nützlich - es kann genauso gut schädlich sein. Hemmungsloses Wachstum in einer endlichen Welt, die von Natur aus auf recycling ausgelegt ist, bringt daher am Ende Zerstörung in den gesamten Organismus hinein.

Ein- und derselbe Vorgang kann also völlig konträr bewertet werden.

Ein kleines Beispiel möge dies illustrieren:

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Stellen wir uns zwei Frauen vor - 
Beide können keine Kinder bekommen. 
Je nach Erwartungshaltung und Interessenlage findet die eine Frau diese Tatsache sehr betrüblich, die andere recht befreiend. 
Die eine wollte gern Kinder und ist nun tief enttäuscht; die andere wollte gar keine Kinder (mehr) und ist nun froh darüber, keine zu bekommen.
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Dieses Beispiel steht für viele andere: es gilt nicht nur für einzelne Menschen, sondern genauso für jedwede Gruppierung. Jede Gruppe verfügt so über ihre eigene Binnenmoral, die aus einer jeweils anderen Sicht derselben Dinge resultiert und daher zu unterschiedlichen Bewertungen führt. Das wiederum führt oft zu vielen Auseinandersetzungen bis hin zu Kriegen - von der Antike bis heute.

Die moralische Achillesferse: 
D
er Mensch macht sich durch seine unterschiedliche Gruppen-Binnenmoral selbst zu seinem größten Feind. 

Die Binnenmoral verschiedener Gruppen beruht auf subjektiven und daher mehrdeutigen und zwangsläufig widersprüchlichen Beurteilungen - und damit auf Meinungen, nicht auf Tatsachen.
Jede Gruppen-Binnenmoral ist daher interessengeleitet - ihre Grundlagen sind somit subjektiv und daher willkürlich und unzuverlässig. Wer kennt nicht die menschliche Gewohnheit, für alles Böse in der Welt immer die anderen verantwortlich zu machen-?

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WIR sind die Guten, die Anderen die Bösen
WIR gehören immer zu den GUTEN, die anderen (Fremde/Ausländer/Juden/Islamisten/Ungläubige/Kapitalisten...) dagegen immer zu den BÖSEN. Daher sind DIE auch IMMER an allem BÖSEN schuld. DESWEGEN müssen WIR das GUTE mit Brachialgewalt durchsetzen, damit die Welt nicht von den BÖSEN unterjocht/zerfressen/zersetzt/aufgelöst... wird. Dazu erfinden WIR die Kreuzzüge (den heiligen Krieg/die Rettung des Abendlandes/die Endlösung der Judenfrage/die Befreiung der Arbeiterklasse...) und müssen KÄMPFEN, immer gegen die anderen... So nimmt der Kampf um den Frieden am Ende solche Ausmaße an, dass zuletzt kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. 1962 hätte es beinahe geklappt (Kubakrise), bei dem finalen Atomschlag für das GUTE! Wäre es wirklich so gekommen, könnten Sie das hier nicht lesen...
Falls es dermaleinst endlich DOCH geklappt haben sollte, könnte sich mit ein bisschen Glück der danach abziehende Rauch zu einem Schriftzug formen: Das Gute & die Gerechtigkeit haben gesiegt!

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So wird verständlich, warum es seit der Aneignung des Moralbewusstseins in grauen Vorzeiten keinerlei sozialen Fortschritt gegeben hat - und bis zum heutigen Tage sich immer noch allerlei Menschengruppen gegenseitig bekriegen. Mit der Folge, dass es inzwischen eine gigantische Rüstungsindustrie gibt, die offiziell Jahr für Jahr mehr als 1,5 Billionen Dollar verschlingt. Inzwischen hat es die "Krone der Schöpfung" soweit gebracht, dass die vorsorglich eingelagerten Atombomben für einen kollektiven Selbstmord völlig ausreichen würden - man muss sich ja gegen die Bösen (die anderen Gruppen) wehren können...
  
Somit ist die menschliche Spezies das einzige Lebewesen, das sich Seinesgleichen zum größten Feind gemacht hat - wegen unterschiedlicher Moraldefinitionen verschiedener Gruppen.

Ansätze für alternative Moralgrundlagen 
Hans Küng hat versucht, mit seinem "Weltethos"-Ansatz dieses Dilemma zu überwinden: eine weltweit verbindliche Moral für alle Menschen, die auch von allen akzeptiert würde. Dahinter steht die Idee der Nächstenliebe, der christliche Urimpuls. Durch diese Sichtweise wandelt sich mein ehemals böser Mitmensch zu meinem Bruder/meiner Schwester. "Gott ist Mensch geworden" - und so ist Gott/das Gute in jedem Menschen zu finden - die Kernaussage des Christentums. Genau deswegen feiern die Christen jedes Jahr ihr Weihnachtsfest.

Aber auch diese Idee von Hans Küng muss zwangsläufig im Ansatz steckenbleiben - sie ist letztenendes auch nur interessengeleitet, wenngleich sie in die richtige Richtung weist: Eine verbindliche Moral für alle - und damit auch für alle Gruppen.

Was nötig wäre: ein naturwissenschaftlich begründeter Moralansatz, der Elemente aus Sozialwissenschaften, Medizin, Hirnforschung und Kulturgeschichte enthält. Er verträte gleichermaßen die Interessen aller Menschen und beruhte zugleich auf zuverlässigen, objektiven naturwissenschaftlichen Grundlagen. Genau ein solcher Ansatz wird früher oder später auch für KI-Systeme benötigt; sie werden als humanoide Abkömmlinge nicht ohne zuverlässige Moralstandards auskommen.

Moral ist ambivalent
Natürlich steckt in jedem Menschen das Potential sowohl für Gutes wie auch Böses. Beides sollte im Gleichgewicht sein; würde das Böse die Überhand gewinnen, zerstörte es zuletzt alle Menschen. Gäbe es nur das Gute, wie in mancher Utopie, verlören wir bald den Blick für mögliche Gefahren - und würden uns dadurch ebenfalls schaden.

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Ein besonders kurioses Beispiel dafür, wie das Moralbewusstsein einer Gruppe ganz willkürlich manipuliert werden kann, liefert uns die

Katholische Sexualmoral
Sie ist allgemein der untaugliche Versuch, der Natur menschliche Moralvorstellungen aufzwingen zu wollen. Die Initiatoren dieser Moral sind nicht so dumm, als dass sie das nicht wüssten. Hochmütiger und dünkelhafter geht es kaum! Wenn sie trotzdem bis heute auf ihren Vorstellungen beharren, bleibt nur eines übrig: Sie wollen so ihre Gläubigen über diese Moral beherrschen - im Klartext: Macht ausüben. Inzwischen durchschauen immer mehr Menschen diese Absicht und "sind verstimmt", frei nach Goethe - und treten einfach aus den Kirchen aus.

Konkret:
Sex vor der Ehe = "Todsünde
"
Sex während der Ehe = Verpflichtung
Sex in neuer Ehe = zurück zur "Todsünde" (bei wiederverheiratet Geschiedenen)

Durch eine spezielle Zeremonie wird der gleiche Vorgang von einer "Todsünde" zu einer Verpflichtung umfunktioniert, und damit der gleiche Sachverhalt - schwupps! - in sein Gegenteil umgewertet. Und für Geschiedene, die wieder geheiratet haben, soll Sex plötzlich wieder als "Todsünde" gelten - das Ganze noch einmal retour...! Auch hier wieder, wie auch vielfach andernorts: absurdes Theater statt "göttlicher Offenbarung"...
Der Klerus bewertet hier ganz offiziell - und ganz willkürlich - die gleichen Vorgänge höchst gegensätzlich. Die Grundlage dafür kommt aus entsprechenden Beschlüssen der Glaubenskongregation wie auch früherer Konzilien.

Zölibat: ein theoretisch sexloses Leben
Dass dies in der Praxis nicht funktioniert, wissen alle Beteiligten: bei den Gläubigen soll so bei jeder "Übertretung" ein schlechtes Gewissen erzeugt werden. Funktioniert zuverlässig immer dann, wenn man die Hürden nur hoch genug setzt. So kann man die Sklaven am besten gängeln. Über die Kollateralschäden dieser Binnenmoral konnte man in letzter Zeit überall ausführliche Berichte lesen:

Missbrauchsfälle bei Kindern
Sie wurden jahrzehntelang vertuscht, nur um das Renomée der Organisation zu retten. Die Interessen der Opfer waren da jahrzehntelang zweitrangig.

Heimliche Partnerschaften und deren Nachwuchs
Als Folge des Zölibats: Kollateralschäden, die unvermeidlich erzeugt wurden, um die Macht der Organisation zu festigen.

Persönlichkeitsdeformationen
Die weniger spektakulären Kollateralschäden dieser Binnenmoral werden neuerdings von wissenschaftlich ausgebildeten Psychosomatikern behandelt. Die dürfen dann die derart verbogenen Persönlichkeiten wieder geraderücken.

Umgang mit Homosexuellen und Frauen
Der Umgang mit sexuell von der Mehrheit abweichend orientierten Randgruppen, oder generell der den Frauen eingeräumte Status sind weitere Beispiele für die speziell katholische Binnenmoral. Neuerdings wurden hierzu heftige Fallbeispiele für den rigorosen Umgang der katholischen Kirche mit betroffenen Menschen in Holland bekannt.
 
Kirchlicher Machtanspruch bestimmt ihre Binnenmoral
Die Kirche tut so, als könnte sie der Natur ihre Moralvorstellungen aufzwingen. Tatsächlich will sie Dir befehlen, was Du tun und lassen sollst - Du musst es glauben und immer gehorchen: Fremdbestimmung geht vor Eigenbestimmung! Die Interessen der Organisation haben vor den Interessen des Einzelnen immer Vorrang. Nur so konnte die antike Sklavenhaltergesellschaft jahrhundertelang fortgeschrieben werden.

Inzwischen ist das Moralbewusstsein bei den Menschen angekommen - die jahrhundertelangen Bemühungen der Religionen tragen ihre Früchte. Das zeigt sich darin, dass sich die Kirchenorganisationen immer mehr mit ihren eigenen Moralvorstellungen konfrontiert sehen - und dadurch mitunter eine fatale Doppelmoral sichtbar wird. Ganz ähnlich, wie bei ihren säkularen Ablegern: bei denen hatte "die Partei" immer Recht - genauso, wie der Papst "unfehlbar" sein soll...

Vor "Gott" / im "Sozialismus" sind alle Menschen gleich. Bis auf die "Gleicheren", die immer noch meinen, sie könnten sich kraft eigener Selbstherrlichkeit ihren eigenen Regeln entziehen...

Auf deutsch nennt man so etwas klerikale Diktatur.

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Die Entdeckung der Moral in der Bibel
Wir finden gleich in den ersten Kapiteln der Bibel die bekannte Geschichte von Adam & Eva, in der metaphorisch die Entdeckung und Aneignung des Moralbewusstseins beschrieben wird. Da essen Adam und Eva die Früchte vom Baum der "Erkenntnis des Guten und Bösen" - was ihnen "Gott" merkwürdigerweise zuvor verboten hatte. Danach muss er eingestehen, dass sie dieser Vorgang "klug" gemacht hätte und sie nun in diesem Punkt gottgleich geworden seien. Was dann Gott, den Allmächtigen angeblich dazu veranlasst hat, sie aus dem Paradies hinauszuwerfen - mit einer recht abwegigen Begründung: sie seinen "ungehorsam" gewesen. 

Diese Geschichte enthält vier Botschaften:
1. Moralbewusstsein ist eine wichtige Grundlage menschlicher Verhaltensweisen
2. Die Definition von Moral sowie die Verfügungsberechtigung darüber steht aber nur der Herrschaftskaste zu:
    - "Gott" als Symbol, konkret seinen klerikalen wie säkularen "Stellvertretern".
3. Sie begründet so die Herrschaft des Patriarchats
4. Verstöße der Sklaven dagegen werden stets hart geahndet - sie dürfen ihrerseits keinen Moralinhalt definieren

In dieser Geschichte werden die "Ureltern" denn auch hart bestraft - mit einer lebenslangen Fron im irdischen Straflager "Jammertal", in dem sie im "Schweiße ihres Angesichts" bis an ihr bitteres Ende zubringen müssen...  

Die Aneignung des Moralbewusstseins wird seither von den Klerikern als "Sündenfall" gebrandmarkt - und damit deren Bedeutung für die Menschheit (genauer: den gläubigen Sklaven) auf "Gehorsam" und "Ungehorsam" reduziert. So gilt bis heute das katholische Glaubensdogma von der "Erbsünde", die durch den "Ungehorsam" der Figuren "Adam" und "Eva" in die Welt gesetzt und zudem auf alle Nachkommen vererbt worden sei.
Unschwer zu erkennen, dass diese Interpretation nichts anderes als den unbegrenzten Herrschaftsanspruch des Klerus über seine Schäfchen begründen soll.

Fazit
Tatsächlich ist die "Entdeckung" der Moral sehr viel bedeutsamer; sie ist die Grundlage allen Fortschritts. Man kann sie als eine wichtige evolutionäre Wegmarke sehen, die den Menschen ermöglichte, die bisherige biologische Evolution um eine aktive Komponente zu erweitern - und damit im Rahmen der Natur ihre Zukunft selbst zu gestalten.  

Ausblick
Ein weltweit anerkannter Moralstandard auf naturwissenschaftlicher Grundlage könnte uns allen ein Ende der Kriege von Menschen gegen Menschen bringen. Damit wäre eine weitere wichtige Wegmarke der sozial-kulturellen Evolution erreicht. Es ist zugleich eine Frage des kollektiven Überlebenswillens.

Im nächsten Abschnitt "Weltethos" finden sie einen Ansatz dazu, der in einem konkreten Projekt umgesetzt werden soll.