Reinhardt Graetz

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Konsequenzen des Moralbewusstseins

"Die Welt ist schlecht" - daher muss sie verbessert werden

 

Erkenntnis elementarer Defizite
"Adam & Eva" haben sich nach dem "Sündenfall" plötzlich nackt und kalt gefühlt, so die biblischen Autoren. Deren "Sündenfall" war die Entdeckung der Moral - die Unterscheidungsfähigkeit zwischen gut und böse. Die Menschen waren von nun an in der Lage, Dinge und Zusammenhänge zu bewerten, und so fielen ihnen auf einmal elementare Unzulänglichkeiten auf. Weitreichendere kamen später hinzu: ("ich weiß, dass ich nichts weiß" - Sokrates, 469 - 399 v.u.Z.) Und erst ein Bewusstsein über Unzulänglichkeiten erweckt den Wunsch nach Veränderung, sprich: nach deren Überwindung. Fortan wollten sie nicht mehr frieren, hungern oder nackt sein; ebenso wollten sie mehr wissen und waren traurig darüber, dass sie nicht fliegen oder nicht ständig tauchen konnten, oder dass manche Tiere schneller oder stärker sind als sie. Manche waren auch traurig darüber, dass sie irgendwann sterben müssen; sie wünschten sich, dass sie während eines längeren oder gar immerwährenden Lebens den Beginn der ersehnten Vollkommenheit erleben könnten. Die Idee des "ewigen Lebens" war geboren.

Moralbewusstsein - Grundlage aktiver Veränderungen
Mit diesem neu erworbenen Moralbewusstsein haben die Menschen sich quasi neu erfunden - auf der Grundlage von Erkenntnissen aus einer altägyptischen Philosophenschule. Seither sind sie zu "Moralmenschen" geworden. Dadurch eröffneten sie sich eine Fülle neuer Möglichkeiten, die Welt in ihrem Sinne aktiv zu verändern. Die natürliche evolutionäre Entwicklung wurde so deutlich beschleunigt; die kulturelle Evolution begann. Die Spezies homo sapiens konnte sich so an die Spitze aller anderen in der Tierwelt setzen. Die Grundlage für die Entwicklung der Zivilisation war gelegt. Naturvölker, die diese Entwicklung nicht mitvollzogen haben, sind daher auf ihrer früheren Kulturstufe stehengeblieben.

Der Wunsch nach Vollkommenheit - Defizite sollen überwunden werden
Seither streben die Menschen nach Vervollkommnung - indem sie Unzulänglichkeiten beseitigen und damit Bestehendes verbessern wollen. Das ist ein rein moralisch begründetes Motiv. 
Dahinter steht ein generelles Denkschema:- der Vergleich zwischen Ist und Soll. Das ist nicht nur das Grundprinzip aller Religionen: der "böse", unzulängliche Istzustand - das irdische "Jammertal" - wird eines fernen Tages einem visionären, idealen, vollkommenen Sollzustand weichen.
Diese Denkweise liegt jedweder säkularer Planung zugrunde: geplant ist immer ein (besserer) Sollzustand, der durch ein konkretes Projekt innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens erarbeitet werden - und damit den unzulänglichen Istzustand ablösen soll.

Die Religionen - ebenso erfunden im alten Ägypten - hatten nun die menschliche Sehnsucht nach einer besseren Welt mit größerer Vollkommenheit fokussiert und kanalisiert, nachdem die seinerzeitige - durch die neu erworbene moralische Brille betrachtet - als unzulänglich und minderwertig, und damit als verbesserungsbedürftig eingestuft wurde (>"Jammertal"). Darüber hinaus schufen die Religionen Rituale und Zuständigkeiten, mit gut und böse, mit Schuld und Sühne umzugehen. Und: kein kunstvoll konstruiertes religiöses Gedankengebäude kommt ohne den Begriff "Gott" aus! 

Was Sie hier als einfaches Postulat lesen können, wurde jahrhundertelang als "Geheimwissen" behandelt -sowohl bei den Freimaurern als auch bei der katholischen Kirche. Den gläubigen Schäflein wollte man nicht zu viel Wahrheit zumuten, vor allem aber die eigene Organisation nicht unnötig gefährden...
http://www.planet-wissen.de/sendungen/pwsediegeheimnissederfreimaurer102.html

Welche Rolle spielt Gott?
So bündelt die menschliche und damit religiöse Vorstellung von einem persönlichen Gott zweierlei Vorstellungen:
Zum einen alle Eigenschaften, die die Menschen aufgrund der neu gewonnenen Einsicht in ihre eigenen Unzulänglichkeiten nicht haben: als allgegenwärtige, allmächtige und zu allem fähige Überinstanz ist "Gott" der große Boss, der mit unerschöpflicher Weisheit alle Entscheidungen trifft und für alle unerklärlichen Vorgänge in der Welt verantwortlich ist, einschließlich des Hervorbringens von Sein und Nichtsein, Anfang und Ende der Welt - und damit auch Herr über Leben und Tod ist. Natürlich ist er auch die Wahrheit in Person. Zum anderen ist er in besonderer Weise die „gute“ Überperson, die speziell für das Gute zuständig ist und es hervorbringt. Wie man sieht, sind das alles höchst menschliche Vorstellungen.

So ergibt sich eine Antwort auf die alte Frage (siehe auch Kapitel 1 dieses Beitrages - Gott und die Welt):

Gibt es einen Gott oder nicht?

JA
,
wenn man ihn als eine menschliche Vorstellung begreift - als solche ist sie real (und nichtgegenständlich), und damit ist "Gott" eine - virtuelle - Realität. Weil sich nur diejenigen ein solches Wesen vorstellen, die auch daran glauben, schaffen sie es sich durch ihren Glauben in ihrer Vorstellung selbst - beispielsweise als das personifizierte Gute.
Eine menschliche Vorstellung kann aber kein eigenständig existierendes, vom Menschen unabhängiges menschenähnliches "Überwesen" sein.  Gäbe es so ein Überwesen tatsächlich, wäre seine Existenz eine Selbstverständlichkeit, ähnlich wie der Himmel. Kein Mensch käme je auf die Idee, den Menschen nahezulegen, an ihn zu glauben, wenn er doch ganz offenkundig existiert. Daher lautet die Antwort

NEIN,
wenn man ihn als ein allmächtiges, allgegenwärtiges und allwissendes Überwesen versteht, außerhalb und unabhängig von den Menschen. Ein derartiges Überwesen existiert real nicht.

Moralische Grundbegriffe - personifiziert
So ist „Gott“ als menschliche Vorstellung real das Prinzip des Guten; das Gegenteil davon ist das Prinzip des Bösen, personifiziert als der "Teufel". Die anderen erwähnten Eigenschaften sind hingegen nichts anderes als inverse menschliche Unzulänglichkeiten, mit denen eine fiktive Person im Laufe der Jahre überfrachtet wurde. Nun hat jeder Mensch die Freiheit, sich gut wie böse sowohl als wirksame Prinzipien oder auch als fiktive Personen vorzustellen und an sie zu glauben; entscheidend hierbei ist anzuerkennen, dass seit der „Erfindung“ der Moral ein Bewusstsein darüber entstanden ist, dass Gutes wie Böses als sehr starke Motive menschlichen Handelns wirken – und damit real existent sind.

Das hat nun aber auch seine Konsequenzen: "Gott" als eine menschliche Vorstellung ist keine real existierende Person, kann daher auch nicht aktiv handeln. Die alte Frage, "warum Gott all' das Elend, die Leiden und die Kriege in der Welt zulässt" (>"Theodizee"), findet so ihre verblüffend einfache Aufklärung.
http://reinhardt-graetz.de/index.php/aphorismen/gott-und-die-welt?showall=&start=3

So erweist sich der jahrhundertealte Streit darüber, ob es einen Gott gibt oder nicht, im Kern als unnötig. Bei der Frage nach "Gott" ist es daher immer hilfreich zurückzufragen: welcher Gott ist gemeint - eine menschliche Vorstellung oder ein real existierendes Überwesen?

Erwerb moralischer Kompetenzen - defizitär bis heute
Natürlich ist es wünschenswert, dass in unserer inzwischen globalisierten Welt ein mehrheitlich anerkannter Moralkodex installiert wird. Ähnlich wie die UN – Charta der Menschenrechte könnten die „Weltethos“ – Thesen von Hans Küng hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten. Was inzwischen überfällig ist: der Abschied vom wortwörtlichen Verständnis des Bibeltextes - genau das führte jahrtausendelang zu zahllosen Missverständnissen und falschen Interpretationen. Erst wenn man die tatsächlichen Aussagen seiner Autoren kennt, kann man das Gesamtwerk in einen richtigen Zusammenhang bringen und entsprechend beurteilen.

Das menschliche Leben ausschließlich dadurch verbessern zu wollen, indem die Menschen selbst in ihrem Charakter und ihrem Verhalten besser werden sollen, ist die erklärte Zielsetzung aller Religionen. Das ist durchaus nicht falsch - notwendig, aber nicht hinreichend. Zudem ist im Laufe der Geschichte dieser grundsätzliche Anspruch immer von Macht- und Gruppeninteressen einzelner Glaubensgemeinschaften überlagert und damit korrumpiert worden. Damit sind auch gleichzeitig die Grenzen dieses Verfahrens aufgezeigt: Die Achillesferse der Moral ist die stets vorhandene Möglichkeit, dass das Wertesystem einer Gruppe sich gravierend von einer anderen Gruppe unterscheiden kann - und den Gruppen damit einen Vorwand liefert, aufeinander losgehen - in der felsenfesten Überzeugung, jeweils nur mit ihrer Gruppe das Gute durchzusetzen. Die Kubakrise 1962 sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich als warnendes Beispiel erwähnt!

Kulturell-soziale und technische Evolution
Inzwischen reifte die Einsicht, dass es als Verbesserungsidee nicht ausreicht, nur den Charakter der Menschen zu "Gutmenschen" umzuformen; daher ist das ursprüngliche, einfache Moralbewusstsein, das nur zwischen gut und böse unterscheidet, im Laufe der Jahre durch die Ideen der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit erweitert worden. Die äußeren Lebensbedingungen und das gesamte soziale Umfeld sind aber für die Menschen genauso wichtig, und daher ebenso verbesserungsbedürftig. Die Grundlagen dafür schufen inzwischen Wissenschaft und Technik - allerdings nicht auf einer subjektiven Glaubens-, sondern einer zuverlässigen, objektiven naturwissenschaftlichen Grundlage. Durch die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten der biologisch-sozialen Entwicklung auf der einen Seite und der wissenschaftlich-technischen auf der anderen Seite ergeben sich inzwischen immer mehr Verwerfungen, die durchaus zu neuen Spannungen und Konflikten führen könnten. Dieses Konfliktpotential ließe sich nur beseitigen, indem die Grundlagen von Moral und Ethik auf eine ebenso naturwissenschaftlich basierte Grundlage gestellt würden. Erst dann könnte eine als allgemeingültig und unumstritten anerkannte Gruppenmoral für die gesamte Menschheit entstehen.

Eines fernen Tages aber werden auch diese Möglichkeiten erschöpft sein. Der Mensch wird wiederum an seine Grenzen stoßen - und dann muss er sich wieder neu erfinden, wenn er als Spezies überleben will. Aber diese Aufgabe können wir getrost den nachfolgenden Generationen überlassen.

Immerhin erscheint es nun möglich abzuschätzen, wie weit die Vorstellungen der biblischen Autoren reichten: von der Entstehung des Lebens in ferner Vergangenheit bis hin zu moralischen Kategorien von gut und böse, der Nächstenliebe und zuletzt der Gerechtigkeit. Auch rechneten sie damit, dass die Menschen in ihrer weiteren Entwicklung hinter die Geheimnisse der Lebenszusammenhänge kommen würden. In der Gesellschaft könne sich dies aber nur dann auf Dauer etablieren, wenn sie bis dahin über fundierte Moralvorstellungen verfügte und sie auch konsequent umsetzen würde, um mit diesem Kenntnisstand dann auch verantwortlich umgehen zu können.

Zu weitergehenden Vorstellungen, etwa über neuartige Lebensformen oder die Besiedlung des Weltraums durch die Menschen, fehlte den antiken Autoren dann doch die nötige Phantasie. Aber genau auf diesen Feldern liegen die künftigen Herausforderungen, wenn sich die Menschen wieder einmal neu erfinden müssen. Darüber hinaus wird es unumgänglich sein, die neuen Möglichkeiten in eine adäquate Philosophie einzubinden.

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Lesen Sie zu diesem Thema auch folgende Beiträge:

"Glauben und Wissen"

http://reinhardt-graetz.de/index.php/aphorismen/gedankensplitter?showall=&start=11

"Fortschritt - technisch und sozial"
http://reinhardt-graetz.de/index.php/aphorismen/gedankensplitter?showall=&start=14

"Menschen und Roboter"
http://reinhardt-graetz.de/index.php/aphorismen/gedankensplitter?showall=&start=15


Bibeltext/Lutherbibel 1912
Die Vertreibung aus dem "Garten Eden" (= dem Paradies)

http://www.bibel-online.net/buch/01.1-mose/3.html#3,1