Reinhardt Graetz

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Fußball-

die moderne Religion

Fußball hat inzwischen weltweit Milliarden Anhänger. Jede Fußball – WM macht unsere Welt zu einem globalen Dorf. Die Anzahl der Zuschauer bei den Endspielen übersteigt vermutlich mehr als die Hälfte der Menschheit – Tendenz steigend. Bei jedem wichtigen Spiel werden Millionen und Milliarden Euros, Dollars oder andere Währungseinheiten bewegt. Und, wie in diesen Tagen wieder mal deutlich wurde, betrifft das nicht nur die Fußball-Fans, die viel Geld ausgeben, um die Spiele ihrer Lieblingsvereine live mitzuerleben. Es betrifft vor allem die Organisationen, präziser: ihre "gleicheren" Organisatoren, samt Sponsoren und sonstiger Helfershelfer. Die können mitunter ein sehr einnehmendes Wesen entwickeln...
Ihren klerikalen Vorbildern stehen sie da in nichts nach. Wie man weiß, hat die katholische Kirche im Laufe der Jahrhunderte ein Milliardenvermögen angehäuft. Tatsächlich handelt es sich um einen weltweit operierenden Großkonzern mit vielen Sonderpivilegien. Die internationale Fußballorganisation ist da inzwischen in genau dieselbe Spur gekommen. Derzeit ermitteln die US-Justizbehörden gegen mehrere führende Funktionäre wegen gigantischer Korruption - und das ist erst der Anfang.

Bemerkenswert ist die Doppelgesichtigkeit: vordergründig die vielen begeisterten Fans, die von der sportlichen Grundidee begeistert sind. Im Hintergrund agiert eine Clique von machthungrigen Gierhälsen, die offenbar nie genug kriegen können. Wie sich die Bilder gleichen!

Genauer besehen, ist Fußball unbemerkt zu einer modernen, säkularen Religion geworden. Alle Merkmale einer Religion sind auf den Fußball anwendbar. Hinter allem steht eine sportgeprägte Grundphilosophie: Setze dir ein Ziel, trainiere dafür, kämpfe und siege! Du kannst so Dein Leben selbst gestalten – „yes, you can!“ Dieses Ziel erreichst du für dich selbst, aber auch immer nur im Zusammenspiel mit deiner Mannschaft. Wenn nicht im Fußball, hilft dir diese Philosophie im Beruf wie im Privatleben; ein richtiger Fußballer achtet in seiner Mannschaft wie im Umgang mit dem Gegner immer auf fair play!

Wenn du am Ziel angelangt bist, wenn Du beispielsweise Fußball - Star geworden bist, erwarten dich paradiesische Belohnungen. Damit bist Du von den Widrigkeiten des schnöden Alltags erlöst. Du wirst als Fußballstar oder als Mitglied der Siegermannschaft mit Ruhm und Ehren überschüttet, dazu mit märchenhaften Gagen, und du bist damit auch im Olymp einer Führungskaste angekommen. Deine Meinung hat dann Gewicht und findet ein weltweites Echo; Milliarden Menschen dienst du als leuchtendes Vorbild; du stehst immer im Mittelpunkt. Beckenbauer, Ronaldo, Backham, Özil, Neuer mögen zum Beweis als Beispiele hierzu dienen.

Fußball ist somit Lebensphilosophie und –rahmen; er liefert einen einfachen Wertekanon und gibt dem Leben Sinn. Fußball entfaltet so eine enorme Sogwirkung, besonders für die Jugend. Vor allem: die Versprechungen des Fußballs bleiben kein leeres Gerede – es gibt immer mehr Beispiele dafür, wie sie im Hier und Heute eingelöst werden können. Somit liefert er ein sehr wirksames Motiv, selbst zu einem Fußball – Star, oder wenigsten zu einem Fan werden zu wollen, zu einem Mitglied einer weltweit starken, wachsenden Wertegemeinschaft, einer globalen Großfamilie. Bei einem Fußballspiel zwischen zwei Starmannschaften und mit ausverkauftem Stadion kann der Zuschauer völlig in der Gemeinschaft aufgehen und seinen prä-archaischen Emotionen freien Lauf lassen.

Fußball zeigt alle Merkmale einer zeitgemäßen Religion, gemäß

seiner Philosophie,
seiner Moral,
seiner Anhängerschaft,
seines Identifizierungspotentials,
seiner Integrationsfähigkeit.

Er zieht Milliarden Menschen in seinen Bann, er hat seine festen Rituale; der Mensch als Fußballfan erlebt eine große Gemeinschaft Gleichgesinnter, die sich während eines dramatischen Spiels von einfacher Begeisterung bis in eine Massenhysterie hineinsteigern kann. Über die Spiele hinaus bewirkt der Fußball ein friedliches Miteinander ganz unterschiedlicher Menschen – von Ausnahmen abgesehen. Auch in den Ausnahmen finden sich ursprünglich religiöse Verhaltensweisen wieder, wenn Glaubenskriege ausgefochten werden zwischen den Fans gegnerischer Mannschaften. Wir sind die Guten, ihr seid die Bösen! Damit hat Fußball eine moralisierende und damit wahlweise vereinende oder polarisierende Wirkung. Bisher wirksame Gruppenbarrieren werden temporär ausgeschaltet oder verstärkt, je nachdem.

So findet man unter dem Phänomen Fußball viele religösen Merkmale, ohne dass er als säkulare Religion bisher wahrgenommen wird.

Lesen Sie hierzu ein Interview - der Kolumnist Axel Hacke wird vom "Züricher Tagesanzeiger" zu genau diesem Thema vernommen:

http://www.tagesanzeiger.ch/sport/fussball/Wer-ist-dieser-Herr-der-sich-so-aufregt/story/11971597