Reinhardt Graetz

Inhalt

Die Bedeutung der Bibeltextsymbolik


Zweierlei Bedeutungsebenen
Lange wurden die Bibeltexte ausschließlich ihrer wortwörtlichen Bedeutung nach verstanden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber eine weitere Bedeutungsebene - durch die offenkundige Verwendung bestimmter Metaphern und Symbole. In den meisten Fällen wurden die Schlüssel zum Verständnis dieser Symbolik von den biblischen Autoren gleich mitgeliefert.
Den wortwörtlichen Text indes kann man nur akzeptieren, wenn man ihn einfach so glaubt - egal, wie unlogisch und unmöglich die Geschichten daherkommen. Diese Bedeutungsebene richtete sich vor allem an die antiken Sklaven, die damit konditioniert werden sollten. Dieser Sachverhalt wurde im 20. Jh. vom Vatikan sogar bestätigt.

Für uns ist die metaphorische Bedeutungsebene aber besonders interessant, weil sich hinter dieser Metaphorik antikes Herrschaftswissen verbirgt, welches nicht nur Anleitungen zur Machtausübung enthält, sondern auch Rückschlüsse über den Kenntnisstand der antiken Herrschaftskaste ermöglicht. So erweist sich der Bibeltext als ein wertvolle Kulturerbe.

Erstaunlich genug:
1229: Bibel-Leseverbot -für ca. 300 Jahre!

Kurioserweise wurde 1229 durch das Konzil von Valencia die Bibellektüre dem gemeinen Volk für die nächsten 300 Jahre verboten. Erst die Bibelübersetzung Luthers 1522 machte diesem Verbot de facto ein Ende - nun lag ja eine deutsche Übersetzung vor. Abgesehen davon, dass zu dieser Zeit die meisten Menschen Analphabeten waren, gab es ja bis dahin nur einige wenige, die in der Lage waren, die lateinischen Originaltexte zu lesen und auch zu verstehen.
Trotzdem - dieses Leseverbot ist kurios genug: war es nur die Sorge vor Fehlinterpretationen, die das Konzil damals umtrieb, oder die Angst, dass beim Lesen dieser Texte unüberbrückbare Widersprüche und andere Unmöglichkeiten entdeckt werden könnten? Oder war es nur ein ganz gewöhnlicher Trick: was verboten ist, erscheint besonders interessant?
Denn: eigentlich waren ja die Bibelgeschichten extra dazu erfunden worden, dass sie unter das gemeine Volk verstreut werden sollten; ein Bibel-Leseverbot zu verhängen, wäre völlig widersinnig.

Eine Antwort auf diese Fragen gab es erst viel später, im Jahre 1930.
Da entspann sich ein interessanter Disput zwischen dem damaligen Erzbischof von Paris, Jean Verdier, und Papst Pius XII - genau zu diesem Thema. Einige Kleriker stießen sich wohl an so mancher Unlogik und Unmöglichkeit der Geschichten gerade in den ersten Bibelkapiteln. Das veranlasste Papst Pius XII zu einer Stellungnahme - wie üblich in solchen Fällen über eine einschlägige Enzyklika. Die nannte er "Humani generis". Hierbei gingen alle Beteiligten davon aus, diese Texte ihrer wortwörtlichen Bedeutung nach zu verstehen.

Ein Auszug hieraus:
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Wie in den biologischen und anthropologischen Fachgebieten, so überschreiten auch in den historischen [Fachgebieten] einige verwegen die von der Kirche festgelegten Grenzen und Vorsichtsmaßregeln. Besonders beklagenswert ist eine gewisse allzu freie Art und Weise in der Auslegung der geschichtlichen Bücher des Alten Testamentes. Um ihre Gründe zu verteidigen, berufen sich deren Begünstiger zu Unrecht auf ein Schreiben, das vor nicht langer Zeit von der Päpstlichen Bibelkommission an den Erzbischof von Paris gerichtet wurde.     
Dieses Schreiben mahnt nämlich ausdrücklich, dass die ersten elf Kapitel der Genesis – wenn sie auch eigentlich nicht derjenigen Art und Weise der Geschichtsschreibung entsprechen, wie sie von den hervorragendsten griechischen und lateinischen Schriftstellern, und auch von den Fachgelehrten unseres Zeitalters angewendet wurde – nichtsdestoweniger in einem ganz wahren Sinn, der von den Exegeten noch weiter zu erforschen und zu erklären ist, dass sie zur Gattung der geschichtlichen Darstellung gehören. Die gleichen Kapitel, so heißt es weiter, berichten in einer einfachen und bildhaften, der Denkart eines wenig gebildeten Volkes angepassten Sprache einerseits die Hauptwahrheiten, die für die Erlangung unseres Heiles von grundlegender Bedeutung sind; andererseits geben sie aber auch einen volkstümlichen Bericht vom Ursprung des Menschengeschlechtes und des auserwählten Volkes.“ 
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Denn die Christgläubigen können sich nicht einer Meinung anschließen, deren Anhänger entweder behaupten, dass es entweder nach [oder vor] Adam hier auf Erden wirkliche Menschen gegeben habe, welche nicht von ihm, als dem Stammvater aller, auf dem Weg der natürlichen Zeugung abstammen; oder aber, dass „Mann“ eine Menge von Stammvätern bezeichne. Denn es wird auf keine Weise klar, wie eine derartige Ansicht in Übereinstimmung gebracht werden könnte mit dem, was die Quellen der geoffenbarten Wahrheit und die Akten des Lehramtes der Kirche über die »Erbsünde« sagen: dass dieselbe aus der wirklich begangenen Sünde des einen Adam [=Ungehorsam-!] hervorgeht, und dass sie durch die Geburt auf alle überging, und jedem einzelnen innewohnt und zu eigen ist.
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Im Klartext:

1. Papst Pius XII vermutete eine geschichtliche Botschaft hinter dem "gewöhnlichen" Bibeltext -
    die sei aber vorerst verborgen und müsse erst von den Exegeten "weiter erforscht" werden.
2. Genau dies hält er aber gleichzeitig für zu riskant - das Erbsündedogma könnte dadurch gefährdet
    werden.

    Demnach hat das Erbsünde-Dogma im Glaubensgebäude der katholischen Dogmenschmiede
    einen sehr hohen Stellenwert.   
   
Die Geschichten vom "Sündenfall" mitsamt der später hinzugefügten "Erbsünde" gehören offenkundig
    zur Geschäftsgrundlage der katholischen Kirche, und die wollte Papst Pius XII nicht ohne Not
    gefährden. Deren Erhalt war ihm offenbar wichtiger als die mögliche Aufdeckung historischer Überlieferungen.

Und so pfiff er seine Kleriker flugs zurück. Eine möglicherweise interessante Forschungsarbeit wurde damit abgeblasen.
Für die gemeinen Schäflein gilt bis heute: die Bibeltexte sollen ihrer wortwörtlichen Bedeutung nach verstanden werden.

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In Kontext hierzu steht ein erst am 1. November 1950 ! erlassenes Glaubensdogma:

Munificentissimus Deus
ist der Titel einer Apostolischen Konstitution, mit der Papst Pius XII. am 1. November 1950 das Dogma der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel bekanntgab.

„Wir verkünden, erklären und definieren es als einen von Gott geoffenbarten Glaubenssatz, dass die makellose Gottesmutter, die allzeit reine Jungfrau Maria, nach Vollendung ihrer irdischen Lebensbahn mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen wurde.“

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Eine körperliche Aufnahme kann nur in einen körperlichen Himmel hinein erfolgen. Den kennen wir als den Himmel (engl. sky) mit Weltall, Sonne, Mond und Sternen - und dem luftleeren Raum, in dem Leben wie auf der Erde unmöglich ist. Welchen Sinn die Überführung einer Leiche in den luftleeren Raum als Glaubenssatz haben soll, wird von den Klerikern allerdings nicht näher erläutert. Ebensowenig, welcher technischer Hilfsmittel sich die antiken Überführer in welchem Jahr bedient haben sollen...

Im Gegensatz dazu befindet sich der imaginative Himmel (engl. heaven), der eine ausschließlich symbolische Bedeutung hat - der aber befindet sich nur in der menschlichen Vorstellungswelt. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, die ganze Überführungsgeschichte nur diesem Himmel zuzuordnen. Aber dann hätten sich die Dogmenschmiede mit der Überführung von Mutter Marias Seele begnügen müssen - eine real existiert haben sollende Leiche in die nichtgegenständliche menschliche Vorstellungswelt zu überführen, hätte sich vermutlich ziemlich schwierig gestaltet.

Aber das wäre dann nicht unser Problem...



Ein biblischer Autor namens Markus hingegen weist uns überdeutlich darauf hin, dass wir doch bitte die Symbolik verstehen lernen sollten - hier "Gleichnisse" genannt.

Er legte Jesus Christus folgenden Satz in den Mund:

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Und Jesus sprach zu ihnen:
… denen aber draußen widerfährt … alles nur durch Gleichnisse, auf dass sie es … sehen … und … hören,
und doch nicht verstehen.

Markus 4, 11-12
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Das klingt wie ein Stoßseufzer von Markus, dem Evangelisten (oder wer auch immer im Original für diesen Text verantwortlich war) - hier haben die biblischen Autoren ihrem Unmut mal freien Lauf gelassen. Diese Worte legten sie immerhin Jesus Christus in den Mund!

Das würde sich heutzutage im gewöhnlichen Deutsch vielleicht so anhören:

...da gibt man sich nun jede Mühe, dem gemeinen Volk unsere Botschaften mit Hilfe verschiedener Gleichnisse (Symbolik/Metaphorik) nahezubringen - aber die stellen sich so doof an, dass sie trotzdem nicht kapieren, was damit gemeint ist.

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Das Stilkonzept
Alle wichtigen Geschichten der Bibel, aber auch des Korans sollte man deswegen als eine Übersetzung von einem ursprünglichen "Klartext" in einen Text "bildhaft/Symbolik" auffassen. (Die jüdische Thora ist dabei identisch mit dem christlichen "Alten Testament" der Bibel). Die eigentliche Botschaft der Autoren erschließt sich uns daher erst, wenn man diese Bildersprache rückübersetzt in den ursprünglichen Klartext, der oft nichtgegenständliche (=abstrakte) Begriffe und Zusammenhänge enthält. Die Schlüssel für die Bedeutung der verwendeten Symbolik haben uns die biblischen Autoren übrigens gleich beigelegt; sie sind in den meisten Fällen mit in den Texten enthalten. Die verwendeten Symbole haben jeweils eine bestimmte Bedeutung; daher wäre es töricht, sie willkürlich mal so und mal anders zu deuten.

Bibeltext doppelspurig  
Der "plot" der Bibel ist "doppelspurig" angelegt: die bildhaften, nach ihrem wörtlichen Sinn zu interpretierenden Geschichten - gleichsam an der Oberfläche - dien(t)en der Konditionierung der analphabetischen Sklaven, die Bedeutung der Symbolik "hinter" manchen der Geschichten der Herrschaftskaste als Betriebsanleitung zur Machtausübung.

Ungehorsam endet für Sklaven tödlich 
Sklaven haben stets folgsam zu sein und müssen ohne Murren gehorchen, sonst taugen sie nichts. Daher hat ihnen die Herrschaftskaste schon in der Antike ein strenges Regiment aufgebrummt, dem sie sich stets zu fügen haben.
In der Bibel beginnt es mit dem "Baum der Erkenntnis von gut und böse" - sollten die Sklaven je auf die Idee kommen, sich dessen Früchte anzueignen, um dadurch klug zu werden, droht ihnen die Todesstrafe:
>...aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.<  -1. Mose 2.17 -

Nun hatten sich die "Ureltern" "Adam und Eva" in dieser Geschichte die Früchte dieses Symbolbaums tatsächlich einverleibt.
Im Klartext: sie hatten die Moral entdeckt und wohl auch kapiert. Etwas, was "klug macht". Merkwürdigerweise war genau das aber verboten - Sklaven haben eben dumm zu sein wie auch zu bleiben-!

Ihre "Sünde": sie waren ungehorsam-! Moralaneignung hin oder her - das Schlimmste, wessen Sklaven und Knechte geziehen werden können...

Derartiger Ungehorsam
wird in dieser Geschichte unbarmherzig geahndet: die zunächst aufgeschobene Todesstrafe wird in eine lebenslange Fron verwandelt - für Adam und Eva als fiktive Ureltern von uns allen, und damit auch aller armen Sklaven werden
- aus dem Paradies geworfen und in eine Strafkolonie namens "Jammertal" vertrieben; dort erwartet sie
- tägliche Mühsal: Disteln und Dornen, Schweiß, Blut und Tränen, Mord und Totschlag
- das Gefängnistor wird streng bewacht, Ausbruch unmöglich
- Die Erlösung daraus ist höchst ungewiss - vielleicht in nebulöser Zukunft, vielleicht im Jenseits, vielleicht aber erst
  nach mehreren weiteren Reinkarnationsdurchläufen (indische Version), in denen die früheren Sünden
  abgearbeitet werden müssen
- Das oben erwähnte "Erbsündedogma" gilt wg. "Ungehorsam" von Adam als dem Stammvater aller Menschen
  in der katholischen Kirche über Generationen bis heute - für alle, die es glauben...

Das Erbsündedogma: sämtliche Nachkommen Adams - also inzwischen fast 8 Mrd. Menschen - seien bereits ab ihrer Geburt mit einer Art Grundschuld belastet, obwohl die noch gar nichts ausgefressen haben können... 
Von diesem ihrem Bösen können sie nur durch die Taufe - also die Mitgliedschaft in der Kirche - erlöst werden... surprised

Dieselbe Moralerkenntnis hingegen macht die Herrschaftskaste klug und gottgleich. 
Ein deutlicher Hinweis darauf, welchen Stellenwert die Bibelautoren ihr tatsächlich beimaßen:
>Und Gott der HERR sprach: siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.<
  - 1. Mose 3.22 -

Die für uns interessante Bedeutung der Bibeltexte enthüllt sich also erst, wenn man deren Symbolik im Sinne der Autoren entschlüsselt und dadurch zu ihrer eigentlichen Botschaft vordringt. In dieser Geschichte geht es um das Deutungshoheits-Monopol der Herrschaftskaste. 

Nur deren Version der Moral hat zu gelten - nicht etwa eine andere, und schon gar nicht diejenige der Sklaven.

Biblische Geschichten: nicht "irgendein" Märchen, sondern...
...offenkundig ein ganz bestimmtes. Kardinal Gerhard L. Müller, der vormalige oberste vatikanische Glaubenshüter, hatte durchaus Recht, wenn er meint, dass die "biblische Geschichte" nicht "irgendein Märchen" sei - sondern, so sollte man da ergänzen, offenbar ein ganz bestimmtes, welches extra von den biblischen Autoren in Umlauf gebracht wurde, um damit die gläubigen Sklaven zu konditionieren.* Traditionsgemäß werden ja diese Märchen bereits den Kindern im Religionsunterricht erzählt - aber, so Kardinal Müller, den Glauben daran zu übermitteln, "das ist heute schwierig". In einer Welt, die inzwischen von Wissen dominiert wird, immer noch dieselben antiken Märchen zu verbreiten, um die "Schäflein" damit zu konditionieren - das muss sich zwangsläufig zu einem immer schwieriger werdenden Geschäft auswachsen.

Andererseits sind alle Bemühungen, diese Texte möglichst originalgetreu für die Nachwelt zu bewahren, durchaus löblich - so bleibt uns ein wertvolles Kulturerbe unverfälscht erhalten.

*Interview mit Kardinal Gerhard Müller vom 17. März 2014 im "Wiesbadener Kurier", Seite 2