Reinhardt Graetz

Inhalt


Deutungshoheiten

Deutungshoheit sichert Machtansprüche


Einen klaren christlichen Glauben zu haben gemäß dem Credo der Kirche wird häufig als Fundamentalismus etikettiert. Dabei scheint der Relativismus, d.h. das Sich-Treiben-Lassen hierhin und dorthin von jedwedem Wind der Lehre, als die einzige Haltung auf der Höhe der Zeit. Es bildet sich eine Diktatur des Relativismus heraus, die nichts als definitiv anerkennt und die als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten lässt.

Papst Benedikt XVI, im Petersdom vor seiner Wahl, April 2005

Die Macht der Wirklichkeitsdefinition liegt in der Neuzeit in den Händen mechanistisch und technokratisch denkender Autoritäten.
Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland - website

Arbeitsteilung: Kleriker und Herrschaftskaste
Seit altersher gibt es eine Arbeitsteilung zwischen den Klerikern und der weltlichen Herrschaftskaste. Die Kleriker – und in der Neuzeit ihre säkularen Kollegen, die Ideologen – sind für die Gehirnwäsche zuständig, die Herrschergruppe für die unmittelbare Machtausübung über das gemeine Volk, die Sklaven. Die Gehirnwäscheabteilung nennt sich „Wächterrat“ oder „Glaubenskongregation“; im Gottesstaat Iran steht der Wächterrat noch über den säkularen Staatsvertretern. Die Sowjetunion hatte ihre Chefideologen (>Suslow), die Nazis (>Rosenberg) ebenso. Im Westen hat diese Rolle Hollywood übernommen. Die weltweit agierende Bewusstseinsindustrie hat inzwischen veritable Ausmaße angenommen. Sie ist für die Deutung der Ereignisse im Sinne der Machthaber zuständig.

Beide oben erwähnte Zitate haben zwei Dinge gemeinsam: Machtanspruch und vermeintlichen Fehlernachweis bei der jeweiligen Konkurrenz.

Beide Gruppen hadern derweil um ihre Deutungshoheit. Deutungshoheit heißt, die Vorstellungen ihrer Klientel nach ihren Vorgaben ungestört beeinflussen zu können. Das wiederum bedeutet, Macht über sie zu gewinnen. Die Zeit brachte es mit sich, dass inzwischen verschiedene Gruppen der Bewusstseinsindustrie miteinander konkurrieren – und das nicht erst seit gestern.

Nun fürchtet mancherorts die Herrschaftskaste um ihre Macht und versucht, ihre Machtansprüche zu begründen, indem sie vermeintliche Irrtümer, Fehler und Unzulänglichkeiten ihrer Konkurrenten anprangert. Daraus versucht sie abzuleiten, dass nur sie über die einzig legitime Deutungshoheits-Kompetenz verfügt.

Die katholische Kirche
benennt ihre Konkurrenz nicht direkt. Sie verortet sie nur ungenau bei denjenigen, die für „jedweden Wind der Lehre“ verantwortlich seien, der wiederum in toto eine „Diktatur des Relativismus“ erzeuge, die nichts als "endgültig" und „definitiv“ anerkenne außer dem Menschen, sein „Ich und seine Wünsche“.
Für wen sonst, so fragt man sich, sind denn die „vielerlei Lehren“ – einschließlich der katholischen Dogmen – gedacht und bestimmt, wenn nicht für die Menschen? Außerdem - wenn "alles fließt", was kann dann schon "endgültig" sein!?

Es drängt sich der Schluss auf, dass offenbar alle anderen, nichtkatholischen „Lehren“ zu den Konkurrenten gezählt werden – egal, ob es sich da um andere Religionen, Philosophien oder auch um die Wissenschaften handelt: wir gegen den Rest der Welt; es geht auch umgekehrt. Die böse Welt will partout nicht die „einzig wahre“ katholische Lehre anerkennen, sondern versucht sie zu relativieren. Damit fürchtet der Klerus, seinem bisherigem Deutungshoheits - Monopol verlustig zu gehen.
Im Klartext: Deswegen fürchten sie sich vor drohendem Machtverlust.
Dummerweise hat der schon vor geraumer Zeit angefangen und wird sich vermutlich auch nicht mehr zurückdrehen lassen.

Die Anthroposophen
sorgen sich auf ihre Weise um ihre abhanden gekommene (oder auch nie erlangte) Deutungshoheit, die ihnen die Wissenschaftler angeblich streitig gemacht gemacht haben. Die wiederum stümpern sich so durch, mit altbackenem „mechanistischem und technokratischem“ Denken - so lamentieren sie angesäuert - und diktieren uns die Wirklichkeit - unerhört-! Jeder weiß doch, dass sie uns, den Anthroposophen zusteht, weil wir alles kraft unseres Dreiviertelgottes Rudolf Steiner stets besser wissen, oder…!? Anthroposophen, Kleriker (und die Partei) haben immer Recht - das sollte sich doch inzwischen bis in die hintersten Winkel der Erde herumgesprochen haben...!
Dass sich die Wissenschaftler gar nicht um die "Deutungshoheit", sondern um beweisbare Erkenntnisse kümmern, ficht die Anthroposophen offenbar nicht an. Ebensowenig, dass die Menschen bestenfalls über die Wirklichkeit nachdenken und diskutieren, sie aber nicht durch irgendwelche Meinungen und Diskussionen darüber beeinflussen können.

Dem bösen „Relativismus“ (=es gibt keine absolute Wahrheit) will die Kirche ihren Absolutheitsanspruch entgegensetzen; die Anthroposophen der bösen Wissenschaft die „Spiritualität“ und den „Geist“. Als wären die Wissenschaftler völlig geistlos den Naturgesetzen auf die Spur gekommen - aber vor allem: als sei es tatsächlich möglich, die Wirklichkeit willkürlich nach eigener Selbstgefälligkeit zu definieren, um sie dadurch nach den eigenen Vorstellungen zu verändern!

Die Wirklichkeit ist schon da -
außerhalb und unabhängig von uns Menschen. Daher wäre die Vorstellung völlig aberwitzig, dass sie erst von uns Menschen willkürlich herbeigedacht und verkündet werden könnte. Sie kann zwar durchaus streckenweise erkannt werden, aber - sie ist originär kein Bestandteil der menschlichen Vorstellungswelt, und kann dann schon gar nicht von selbsternannten Schlaumeiern extra erzeugt werden.

Wissenschaft und Deutungshoheit
Das, was Wissenschaftler erkannt haben, stellen sie immer unter Vorbehalt. Es kann ja immer sein, dass sie sich geirrt haben, oder dass ihre Erkenntnisse Teil eines größeren, umfassenderen Zusammenhangs ist. Was sie dann als ihre - vorläufigen! - Erkenntnisse verkünden, ist dann aber keine willkürlich verfasste Meinung unter vielen anderen, sondern eine an Naturgesetzen orientierte "Wirklichkeitsdefinition". Und weil die immer auch beweisfähig ist, erwächst daraus auch eine Deutungshoheit.

Was beide, katholische Kirche wie Anthroposophen, nicht anerkennen wollen, dass es tatsächlich verlässliche und zuverlässige Grundlagen gibt, auf denen unsere Existenz beruht – und die völlig außerhalb des Einflusses beider Gruppierungen liegen. Wir alle sind Teil der Natur und unterliegen ihren Gesetzen, ob es der Kirche oder den Anthroposophen nun passt oder nicht. Sie möchten zwar der Natur ihre moralischen und/oder sonstigen Vorstellungen aufzwingen, wie beispielsweise den Zölibat – aber das ist und bleibt ein aberwitziger Anspruch, geprägt von Realitätsferne und maßloser Selbstüberschätzung.
Tatsächliche Zuverlässigkeit – das Gegenteil von Beliebigkeit - kommt aus real existierenden Naturgesetzen, nicht aus willkürlich erdachten Glaubensdogmen. Und: der Energieerhaltungssatz oder die Quantenphysik haben nichts mit „Mechanistik“ und Technokratie zu tun – deren Gesetze galten schon, als die Menschen noch auf den Baumwipfeln herumliefen; da gab es längst noch keine Katholiken oder Anthroposophen. Zudem ist die Zeit der Dampfmaschinen längst abgelaufen; die Energiewende ist dabei, sie in die Museen zu verfrachten.