Reinhardt Graetz

Inhalt

Wirklichkeit und Wahrnehmung



Entweder existieren die Dinge so, wie sie erscheinen,
oder sie existieren nicht und erscheinen auch nicht;
oder sie existieren, scheinen aber nicht zu existieren,
oder sie existieren nicht, scheinen aber trotzdem zu existieren.
Epiktetes, phrygischer Philosoph


Es gibt zweierlei Kategorien der Wirklichkeit:


1. Die Wirklichkeit außerhalb und unabhängig von uns.
2. Die Wirklichkeit innerhalb und abhängig von uns.

Von beiden machen wir uns nur ein Bild innerhalb unserer Vorstellungswelt.


Die Wirklichkeit außerhalb und unabhängig von uns
Was wir von der Wirklichkeit außerhalb und unabhängig von uns wahrnehmen, ist tatsächlich nur ein mehrfach transformierter, stark eingeschränkter Ausschnitt von ihr. Nur so können wir uns überhaupt erst ein Bild, eine Vorstellung von ihr machen. Anders könnten wir sie gar nicht verstehen. Messungen ergaben, dass unser Hirn allein für den Umformungsvorgang eines Außenimpulses ca. eine halbe Sekunde benötigt, ehe wir ihn wahrnehmen. Würde unser Hirn nicht ständig simultan zu unseren Wahrnehmungen die Identifizierungsmuster liefern, sähen wir nur Farbflecke oder hörten nur Geräusche, mit denen wir nichts anfangen könnten. Die Mathematik liefert uns eine Möglichkeit, unsere Vorstellungen über die Wirklichkeit zu erweitern, indem sie uns Einblicke in bestimmte Funktionszusammenhänge bietet, die wir anders nicht bekommen könnten.

Die Wirklichkeit innerhalb und abhängig von uns
Die Wirklichkeit innerhalb und abhängig von uns ist dagegen anders beschaffen; sie ist hervorgegangen aus unserem Gedächtnis. Das ist in der Lage, Erinnerungen hervorzurufen an vergangene Wahrnehmungen, inzwischen aber auch, nach einer langen Entwicklung, an Gedanken, Empfindungen oder Gefühle. Unsere Gedanken bilden ihre eigene Welt, die aus ganzen "Gedankengebäuden" bestehen kann - einer virtuellen Wirklichkeit, die aber genauso real ist wie die Wirklichkeit außerhalb und unabhängig von uns.

Die Kunst ist, beides sauber auseinanderzuhalten. Wenn wir Erinnerungen aus unserem Gedächtnis abrufen, laufen wir oft Gefahr, Teile unserer Gedankengebäude mit Erinnerungen an Wahrnehmungen außerhalb und unabhängig von uns miteinander zu vermischen. So entstehen oft unnötige Irrtümer: unsere Gedankengebäude müssen ja nicht zwangsläufig wirklichkeitskonform sein. Unser handicap besteht darin, dass wir eben die Wirklichkeit nicht 1:1 wahrnehmen können, sondern sie immer in "formatierten" Erinnerungen speichern, die auf der gleichen Ebene wie unsere Gedankengebäude liegen.

Alles fließt - panta rhei
Nichts auf dieser Welt ist beständig: "alles fließt" - und daher ist immer alles offen, und es kann nichts Endgültiges geben. Und warum ändert sich immer alles? Weil sich in unserer Welt ständig alles bewegt, und daher ist schon in der nächsten Sekunde nichts mehr so wie vorher. Den Antrieb für diese Bewegungen liefert die allgegenwärtige Energie. Naturwissenschaftlern ist der Energieerhaltungssatz geläufig; er besagt, dass man die Energiemenge - und damit die "Urform" der Energie - nicht verändern oder gar aufheben kann, man kann sie noch nicht einmal vermehren oder verringern. Dieser Satz hat sich inzwischen millionenfach bestätigt. Und ganz und gar verschwinden oder aus dem Nichts heraus entstehen kann sie schon gar nicht - und damit ist sie ewig; die Materie als Sonderzustand der Energie eingeschlossen. Was sich bei der Energie ständig ändert, sind ihre Zustände, ähnlich wie der Wellenschlag auf dem Ozean. Dadurch werden ständig Kräfte freigesetzt, die auf vielfältige Weise ihre Wirkungen entfalten.

Warum gibt es überhaupt etwas - und nicht einfach nur nichts?
Ohne die Existenz und die Wirkungen der Energie gäbe es kein "Sein". Die alte Philosophenfrage, weswegen es überhaupt etwas gibt, und nicht einfach nur nichts, findet so, ganz nebenher, ihre überraschend einfache Antwort: weil alles Sein auf der Existenz der Energie beruht, die immer schon da war, niemals angefangen oder aufgehört hat, ist und sein wird; und weil immer schon was da war, kann es niemals "gar nichts" gegeben haben.

Energie, unverstanden
Trotzdem verstehen wir von ihrem Wesen und Charakter immer noch viel zu wenig - wir wissen bis heute noch nicht einmal, was sie eigentlich ist. Das ist auch kein Wunder, denn man kann die Ursache ihrer Existenz nicht mit einem üblichen "warum" erfragen. Diese Frage unterstellt ja, dass es einen Anfang und damit auch einen Auslöser ihrer Existenz gegeben haben muss - und genau das kann bei etwas Ewigem nicht zutreffen. Etwas, was immer schon da war, und immer sein wird, kann ja nie entstanden sein; und darum gibt es auch keine auslösende Ursache für ihre Existenz. Das gilt natürlich auch für die "dunkle" Energie. Diese Bezeichnung ist leider reichlich irreführend - sie müsste eigentlich "rätselhafte" Energie heißen, weil man einfach noch viel zu wenig über sie weiß. Daher tappen die Wissenschaftler noch "im Dunkeln". Mit hell oder dunkel im üblichen Sprachgebrauch hat dieser Name allerdings gar nichts zu tun.

Um hier für Aufklärung zu sorgen, müssen wir uns andere Fragen einfallen lassen.

Natur - vollkommen?
Dass die Natur sich zu immer größerer Vollkommenheit entwickeln würde, ist nichts als ein einfältiger menschlicher Dünkel, der sie in seine fragwürdigen moralischen Ansprüche zwingen will. Ob wir ein Ding oder Organismus für vollkommen oder unvollkommen halten, hängt nicht davon ab, wie einfach oder kompliziert es/er aufgebaut ist, sondern von den Ansprüchen und Erwartungen, an denen wir Menschen die Dinge messen. Die wiederum sind durch unser menschliches Vorstellungsvermögen geprägt und daher von vornherein begrenzt.

Reflexionen
Energie ist das Vermögen Kräfte freizusetzen.
Jede Kraft kann sowohl zum Guten als auch zum Bösen verwendet werden.
In der Natur gibt es kaum rechte Winkel.
Was sollte Parallelen veranlassen, sich im Unendlichen zu schneiden?
Auch die Mathematik ist nur ein Teil der menschlichen Vorstellungswelt.